Das goldene Dutzend der Serien-Saison brachte eine blutsaugende, bizarre Dreiecksbeziehung, komplizierte Frauenfreundschaften, traumatisierte Rentierbabys und mehrere nuancierte Begegnungen zwischen Ost und West.

12. Say Nothing (S01)

Dieser erst sehr spät im Jahr gestarteten Miniserie aus dem Qualitätshause FX gelang gar Erstaunliches: die kühle Präzision des gleichnamigen Sachbuch-Bestsellers von Patrick Radden Keefe in glühendes Fernsehen zu übersetzen. Die weitreichenden Schrecken der nordirischen Troubles wurden hier im Wesentlichen durch die subjektiven Erfahrungen und Empfindungen von Dolours Price (Lola Petticrew) gefiltert, einer Frau, die in jugendlichem Leichtsinn zur IRA-Agitatorin wurde und ihr späteres Leben (gespielt von Maxine Peake) damit verbrachte, von den extremen Taten, an denen sie beteiligt war, heimgesucht zu werden. Say Nothing begab sich solcherart tief in die finsteren Gassen moralischer Ambivalenz, in denen Opfer zu Tätern wurden, und Schweigen zum tödlichen Kodex: Mythen wurden hier nicht geschrieben, sondern dekonstruiert, politische Gewalt nicht verherrlicht, sondern seziert – mit schneidender Klarheit und einer fesselnden Erzählung, die wie Sprengstoff tickte.

11. Tokyo Vice (S02)

Man ist geneigt zu sagen: Wieder einmal war etwas zu gut, um länger bleiben zu dürfen – denn fast selbstredend wurde dieses TV-Juwel, das so unglaublich versiert an der Nahtstelle von Medien, Business und Verbrechen agierte, auf seinem kreativen Höhepunkt abgesetzt. Geprägt von der elektrisierenden Handschrift des grandiosen Sezierers von Männerwelten, Michael Mann, war Tokyo Vice immer viel mehr als ein Crime-Thriller: Es war eine tiefgründige Erkundung von Loyalität und Wandel. Die zweite Staffel der HBO/Max-Produktion, die auch als eines der wenigen herausragenden fiktionalen Formate über Journalismus gelten darf, verabschiedete sich schließlich mit einem ebenso nervenaufreibenden wie wehmütigen Finale, das die Grauzonen zwischen Moral und Macht so kraftvoll ausleuchtete, dass man glaubte, es seien glühende Neonlichter in der japanischen Metropole. Lakonisch mittendrin: Altmeister Ken Watanabe – niemand schmunzelte in diesem Jahr so herrlich angspeist.

10. Pachinko (S02)

Dieses ganz besondere Kleinod im ohnehin an Kostbarkeiten so reichen Portfolio von Apple TV+ hat es auch in seiner zweiten Staffel mit Glanz und Gloria geschafft, jenen erzählerischen Reichtum aufzufächern, der schon die Romanvorlage von Min Jin Lee zu einem modernen Klassiker gemacht hat. Showrunnerin Soo Hugh führte die Mehrgenerationen-Saga mit beträchtlichem Taktgefühl und tiefem Verständnis fort und machte Kim Sunja (Kim Min-ha/Yoon Yeo-jeong) und ihren Enkel Solomon (Jin Ha) noch expliziter als zuvor zu Symbolen für die zeitlosen Struggles ihrer Sippe. Visuell wie narrativ überzeugte Pachinko als mitreißendes Prestige-TV-Kunstwerk, das spielerisch und meisterhaft mit Zeitebenen, Beziehungen und historischen Hintergründen jonglierte – und darüber nie die emotionale Dimension aus den Augen verlor. Selten wurden Koffer so berührend gepackt. Ja, selbst die neue Titelsequenz war ähnlich fantastisch wie die des ersten Teils. Jetzt nur noch Staffel drei ordern, bitte!

9. Hundert Jahre Einsamkeit (S01)

Manchmal lohnt sich das Warten doch, Teil 1. Zu einem Zeitpunkt, als vielerorts bereits die Bilanzen des Serienjahres gezogen worden waren, stellte Netflix noch einen echten Knaller in seine Mediathek, der auf keiner Bestenliste fehlen darf: den ersten Teil der von den Erben von Gabriel García Márquez initiierten Serienadaption seines, nun ja, Jahrhundertromans. Die umsichtige Bearbeitung des Regieteams Alex García López und Laura Mora (gedreht auf Spanisch in Kolumbien, mit wenigen auch hierzulande namhaften Schauspielern) wurde dem vermeintlich unverfilmbaren Werk vom Aufstieg und Niedergang einer Dynastie, einer Stadt vollauf gerecht: Mit überwältigender Kinematographie und Liebe zum überbordenden Detail wurde dieser epischen, magischen, tragischen Geschichte neues Leben eingehaucht. Menschen schwebten, Blüten fielen vom Himmel, Ergriffenheit stellte sich ein. Zählt man die wunderbaren neuen Staffeln von Shōgun, Pachinko und My Brilliant Friend hinzu, kann man von einem wahrhaft guten Jahr für hochkarätige Literaturverfilmungen sprechen.

8. Industry (S03)

Manchmal lohnt sich das Warten doch, Teil 2: Zu einem Zeitpunkt, da viele andere Serien, die bis dahin eher wenig Resonanz gefunden hatten, längst abgesetzt waren, fand diese HBO-Produktion erst so richtig zu sich selbst. Wer – wie der Autor dieser Zeilen – Konrad Kays und Mickey Downs slicker, stark mit Fachjargon angereicherter Finanz-Soap bisher eher skeptisch gegenüberstand, bekam in Staffel 3 vor Augen geführt, was alles möglich ist, wenn das Drehbuch all-in geht. Und zwischen abgefuckten Machtspielen und moralischen Tiefpunkten wirklich keine Gefangenen mehr macht: 2024 warf Industry mit fiesen Wendungen um sich, als gäbe es kein Morgen. Der rasende Puls der Finanzwelt von Pierpoint & Co. wurde zum Erzählprinzip – jede Folge brannte wie ein Staffelfinale. Yasmin (Marisa Abela) taumelte zwischen Emanzipation und familiärem Alptraum, Nebenfiguren wie Rishi bekamen ihren (tragischen) Moment im Rampenlicht, Kit Haringtons Sir Henry Muck fügte der ohnehin schon scharfen Klassenkritik noch eine Schicht hinreißender Arroganz hinzu. Das Ergebnis: ein unerbittlicher, höchst entertainender Blick auf Menschen, die den Preis von allem kennen – und den Wert von nichts.

7. Grotesquerie (S01)

Doctor Odyssey, Monsters: The Lyle and Erik Menendez Story, Feud: Capote vs. the Swans, 9-1-1, American Sports Story, American Horror Stories: Allein mit Ryan Murphys neuen Formaten und Staffeln aus diesem Jahr ließe sich mühelos eine lange Liste für eine Serienauswahl 2024 füllen – nur eben nicht mit den Highlights der Saison. Doch dann war da eben noch Grotesquerie: der Ausreißer, der in seiner Wildheit alle Erwartungen sprengte. Endlich war wieder Peak Murphy Madness angesagt: auf halber Strecke zwischen Sieben und Hannibal positioniert, aber doch eigenständig genug, um nicht nur Zitatschatz zu sein. Ein düsteres Horrorspektakel, das einer gebeutelten Polizistin und einer Nonne mit Hang zu makabren Verbrechen folgte. Ihr gemeinsames Ziel? Einen Ritualmörder zu fassen, der seine Opfer in bizarren, religiös aufgeladenen Tableaus inszenierte. Gebannt und abgestoßen zugleich ließ einen der alptraumhafte, hyperästhetisierte Blick in die Abgründe der Menschheit mit einer bangen Frage zurück: Wie tief kann es von hier aus denn noch runtergehen?

6. English Teacher (S01)

Diese Schul-Sitcom war das unerwartete Comedy-Highlight der Saison. Denn ihr gelang, woran die meisten aktuellen Genrevertreter scheitern: den schmalen Grat zwischen Satire und Empathie zu meistern. Das fing schon damit an, dass die Show aus der Feder von Brian Jordan Alvarez (der auch die Titelfigur, einen schwulen Englischlehrer, verkörpert) den turbulenten Alltag im Lehrerzimmer ebenso pointiert in Szene setzte wie die mitunter abenteuerlichen Kämpfe zwischen Pädagogen, Eltern und Schülern. Doch statt Letztere zu glorifizieren, wie es in Highschool-Dramen gerne geschieht, zeigte diese FX-Produktion: Ob mit selbst diagnostizierten Krankheiten oder ebenso hitzigen wie hanebüchenen Wortgefechten – die Schüler waren hier nicht weniger cuckoo als die Erwachsenen. Womit sie aber letztlich ernst genommen wurden. Neben beißendem Humor und der nötigen Augenhöhe bot English Teacher auch erstaunlich viel Herz und verhandelte ohne erhobenen Zeigefinger die Frage, wie Lehrer und Schüler in einem von Social Media und Kulturkämpfen bestimmten Bildungssystem bestehen können. Hier wurde wirklich jede Prüfung bestanden. Mit Auszeichnung. Und einem Augenzwinkern.

5. Ripley (S01)

Das Frühjahr 2024 brachte so etwas wie den unverhofften Einzug des Film Noir ins Prestige-TV. Da war zum einen Colin Farrells Genre-Mutation Sugar (die es knapp nicht in diese Liste geschafft hat), zum anderen diese elegante Wiederkehr des großen Schwindlers der Literaturgeschichte, die sich so ganz anders anfühlte als die bisherigen Bearbeitungen der Vorlage von Patricia Highsmith. Serienschöpfer Steven Zaillian und Kamera-Ass Robert Elswit setzten hypnotisch kühles Schwarzweiß nicht als Effekt, sondern als wesentlichen Ausdruck ein: Licht und Schatten zogen sich geheimnisvoll an und stießen sich wieder ab, spiegelten gleichsam die innere Zerrissenheit der Hauptfigur. Andrew Scott interpretierte dieses Chamäleon mit beängstigender Präzision zwischen Gefühlskälte und gespielter Freundlichkeit, zwischen Sehnsucht und tief vergrabener Traurigkeit. Wie die Katze, die in der Lobby von Ripleys Haus in Rom lauerte, konnte man seine Augen einfach nicht von diesem great pretender lassen.

4. My Brilliant Friend (S04)

Nach vier (leider nur allzu gern ignorierten) Staffeln verabschiedete sich die HBO-Verfilmung des weltberühmten Romanquartetts von Elena Ferrante in diesem Herbst – und hinterließ eine Lücke, die irgendwie viel größer anmutete als der Abschied von „nur“ einer Serie. Vor den Fernsehschirmen waren wir mit den Protagonistinnen Elena und Lila gleichsam aufgewachsen, hatten sie von den 1950er bis in die 1990er Jahre durch ein Neapel begleitet, das ebenso malerisch wie brutal wirkte. Bis zu seinem bittersüßen Finale erzählte Meine geniale Freundin mit Wahrhaftigkeit und Sinn für Nuancen von der komplizierten Beziehung zweier Frauen: zwischen Freundschaft und Rivalität, so unterschiedlich und doch untrennbar miteinander verbunden. Episch und intim zugleich lieferte diese Masterclass in emotionalem Storytelling ein Schulbeispiel für eine Romanverfilmung, die das Erbe ihrer Vorlage auf Augenhöhe weitertrug. Und dabei auch noch verdammt gut aussah. Wann geht bitte der nächste Flug nach Bella Napoli?

3. Baby Reindeer (S01)

Spätestens seit Squid Game wissen wir: Die größten Netflix-Erfolge sind oft die, die auf dem Papier gar nicht danach aussehen. Auch Richard Gadds Durchbruchsserie schien zunächst ein denkbar unwahrscheinlicher Kandidat für eine der meistgehypten Serien des Jahres zu sein. Der schottische Schauspieler und Comedian verarbeitete hier einige der verstörendsten Kapitel seines Lebens. Als fiktionalisierte Version seines jüngeren Ichs brachte Gadd seine Erfahrungen mit Stalking, Grooming und sexuellen Übergriffen ans Licht – ein herausfordernder und faszinierender Streifzug durch die Grauzonen zwischen Mitgefühl und Missbrauch, Nähe und Zerstörung. Baby Reindeer war keine Serie, die einfache Antworten lieferte – selbst wenn einige Internet-Detektive die Suche nach der realen „Martha“ für eine Art Aufklärung hielten. Vielmehr grub sich Gadd unermüdlich durch das komplexe Geflecht aus Schuldgefühlen, seelischen Verletzungen und emotionalen Abhängigkeiten und lieferte eine eindringliche Auseinandersetzung mit den Lügen, die wir uns selbst erzählen, um zu überleben. Trotzdem war das Ganze auch verdammt lustig. Believe the Hype!

2. Interview with the Vampire (S02)

Die Untiefen der Unsterblichkeit: Selten wurden sie so verführerisch in Szene gesetzt wie in der AMC-Serie nach dem Allzeit-Blutsauger-Klassiker von Anne Rice, die sich in ihrer zweiten Staffel zu einem wahrhaft hypnotischen Melodram hochgeschaukelt hat. Mit Paris als schillerndem neuen Handlungsort trieb Serienschöpfer Rolin Jones den Geist der Vorlage endgültig auf maximalistische Höhen und servierte ein bluttriefendes, aberwitziges Schauermärchen, in dem Jacob Andersons Louis und Sam Reids Lestat ein verhängnisvolles Liebesballett aus Obsession, Schuld und Vergebung aufführten, das durch Assad Zamans mysteriösen Manipulator Armand kurzerhand zu einer bizarren Dreiecksbeziehung erweitert wurde. Mit ausschweifender Opulenz und knisternder Intimität suchte dieses triumphale TV-Hochamt des Gothic-Genres auf hochpoetische Weise die Auseinandersetzung mit Macht, Trauma und Begehren. Und gab einem immer wieder totgesagten Genre eine neue Dosis Dringlichkeit: düster, romantisch, emotional scharfsinnig. Don‘t Be Afraid, Just Start the Tape!

1. Shōgun (S01)

O tempora, o mores! Die erste Serienverfilmung des Bestsellers von James Clavell verengte die Geschichte vor vier Jahrzehnten noch zu gerne auf die eines weißen Helden im Japan des 17. Jahrhunderts. Die Neuauflage von Justin Marks und Rachel Kondo hat den Stoff nun gleichsam zu seinen Wurzeln zurückgeführt und zugleich kultursensibel modernisiert: Die Perspektive des englischen Seefahrers John Blackthorne (Cosmo Jarvis) wurde gerade-, japanische Charaktere wie Toranaga (Hiroyuki Sanada) und Mariko (Anna Sawai) in den Vordergrund gerückt. Die Horizonte waren in dieser FX-Miniserie (die aufgrund des Erfolges natürlich fortgesetzt wird) nun weiter, die Charaktere von faszinierendem Facettenreichtum, die kulturelle Authentizität von elementarer Bedeutung. Shōgun kultivierte in diesem Zusammenhang auch eine Ästhetik, die Geschichte greifbar machte: von der überwältigenden Liebe zum Detail (das Setdesign! die Kostüme!) bis zur nuancensatten Konversationskunst, die sich zwischen Japanisch und Englisch entfaltete. Dieses Instant-Serien-Meisterwerk vereinigte auf nachgerade beispielgebende Weise Spektakel, politische Intrige und menschliche Tiefe – und war damit tatsächlich (wenn auch ganz anders) der würdige, wenn auch nicht mehr erwartete Thronfolger von, genau, Game of Thrones.