Ein Fixstern der Viennale, des Filmjahres – und wohl auch bald der Awards Season: Brady Corbets engimatisches, ergreifendes Epos lässt einen mit seiner bestechenden Erzähl- und Inszenierungskunst mit offenem Mund zurück.

Holy smokes und na servas, das hatte ich mir wirklich anders ausgemalt. Im großen Ganzen wie im konkreten Kleinen. Aber selbst schuld – da braucht man auch kein Mitleid zu erwarten, wenn man als Autor dieser auf Kurzweil angelegten Leinwand-und-Flimmerkasten-Kolumne ausgerechnet den Tag nach der US-Wahl für die Niederschrift auswählt. Und jetzt, nach dem zwar irgendwie befürchteten, darob aber nicht minder niederschmetternden Ausgang, ist die Stimmung so tief in den Minusbereich gerutscht, dass mir beim Tippen fast die Finger abfrieren. „We tell each other lies to hide the truth / and we hate ourselves for everything we do”, sinniert passend dazu weltmüde Robert Smith in The Cures frischem Klagelied „Warsong“ – leider eine pointierte Bestandsaufnahme des Zustands der Welt. Kann man in einer solchen Katerstimmung, die doch eigentlich nach Rückzug ins Bett schreit, überhaupt noch den Kopf frei genug haben, um Überlegungen zu vermeintlich trivialen, fiktiven Bewegtbild-Ereignissen anzustellen? Man kann es nicht nur, man muss es sogar. Denn Filme sind bekanntlich – fünf Euro ins Phrasenschwein! – immer Fenster zur Welt. Und, ja,  zugleich ihr Spiegel.

Also erst einmal tief durchatmen – und sich dann ausgiebig einem Film zuwenden, der in vielerlei Hinsicht mit gegenwärtigen politischen Entwicklungen resoniert: The Brutalist, ein bereits bei der Viennale und davor in Venedig gefeiertes Epos, das Ende Januar in den Lichtspielhäusern des Landes landen wird. Die dritte Regiearbeit des früheren Schauspielers Brady Corbet entfaltet über mehrere Jahrzehnte die bewegte Geschichte des ungarisch-jüdischen Architekten László Tóth (kurioserweise nach Megalopolis bereits die zweite Kolumne in Folge, die sich brillanten Baumeistern widmet): einem Bauhaus-Schüler, von Adrien Brody in einer kraftvollen Karrierebestleistung interpretiert, der anno 1947 in der Neuen Welt aufschlägt. Von Krieg und Konzentrationslager gezeichnet, steht Tóth vor den Trümmern seiner Existenz: Seine Frau und seine traumatisierte Nichte sind an der österreichischen Grenze gestrandet, während er selbst zunächst in einer Abstellkammer seines Cousins haust und sich zeitweise als Kohlenschaufler durchschlagen muss, um zu überleben.

Das Blatt scheint sich zu wenden, als ihm ein betuchter Industrieller einen ebenso hochdotierten wie prestigeträchtigen Auftrag erteilt: Tóth soll ihm einen futuristischen Prachtbau – Gemeindezentrum, Kirche, Bibliothek und Sporthalle in einem – entwerfen, mitten im ländlichen Pennsylvania. Der Perfektionist stürzt sich wie besessen in das irre Unterfangen, das ihm neben der Rückkehr zur Architektur auch die Zusammenführung mit seiner Familie ermöglicht. Doch der Preis ist hoch: Unter dem wachsenden Druck des erratischen, exzentrischen Mäzens steigert sich Tóths detailversessener Ehrgeiz zu einer existenziellen Krise, die ihn an den Rand des Wahnsinns treibt.

Das Drehbuch, das Corbet gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Filmemacherin Mona Fastvold (deren fulminante letzte Regiearbeit The World to Come an dieser Stelle noch einmal wärmstens empfohlen sei), entwickelt hat, zielt in seiner Konzeption auf eine breite Auseinandersetzung mit den Verheißungen und Verwerfungen des amerikanischen Traums aus der Perspektive von Immigranten. Inwieweit formen Einwanderer (hier speziell: der Nachkriegszeit) die USA nach ihren Vorstellungen – und wie prägt das Land sie im Gegenzug? Welche Opfer müssen sie für die in Aussicht gestellte Möglichkeit zur Selbstverwirklichung bringen? Ist ihnen die Toleranz des brutal durchkapitalisierten Systems nur so lange sicher, wie sie einen möglichst substanziellen Beitrag zum Gemeinwohl leisten? Und wie steht es um dieses Gemeinwohl, wenn es vermehrt um die Begehrlichkeiten Superreicher organisiert wird? Wer kann und darf diesen Traum mitgestalten, wer vermag ihn zu leben – und wie?

Denkt man diese Überlegungen konsequent weiter, kommt man unweigerlich an die Bruchstelle zwischen dieser spezifischen fiktionalen Welt (nein, László Tóth hat es genauso wenig gegeben wie Lydia Tár aus Tár!) und der Realität der gesellschaftlichen Gegenwart (nicht nur der USA) – mit ihrer zunehmend beklemmenden Intersektion von Macht, Ausbeutung und autoritärer Kontrolle, die von Milliardären und ihren populistischen Politlautsprechern nicht nur konserviert, sondern mit meisterhafter Manipulationskunst immer ausgeklügelter ausgestaltet wird. Filme, Spiegel, Welt.

Bei aller Auseinandersetzung mit diesem und anderen konkreten Themen (Kunst und Kompromiss, Integrität und Identität) strahlt The Brutalist freilich auch eine einnehmende Rätselhaftigkeit aus. Wie sein Protagonist bleibt der dreieinhalbstündige Film in seiner Gesamtheit kaum je wirklich entschlüsselbar – was ihn ebenso in eine Ahnenreihe mit großen amerikanischen Aufstiegsepen wie Es war einmal in Amerika oder There Will Be Blood stellt wie seine bildgewaltige Vision. Apropos: Atemraubend, dass diese vollends ausformulierte Welt angeblich mit einem Budget von lediglich sechs Millionen Dollar realisiert wurde – etwa 1/30 der Mittel, die der leb- und lieblose Incel-Trip Joker: Folie à Deux für seine in drei Räumen präsentierte Banalerzählung zur Verfügung hatte.

Am Ende dieses enigmatischen, ergreifenden Epos bleibt man unweigerlich mit offenem Mund zurück – hier hat es tatsächlich eines jener Werke von bestechender Erzähl- und Inszenierungskunst, die dem Prädikat „they don’t make them like this anymore“ mühelos gerecht werden. Möge die Kühnheit dieses mit allen ehrlichen Schrammen versehenen Monuments für die paradoxe Natur des amerikanischen Traums weit über die beklemmende Zeit seiner Veröffentlichung hinaus leuchten. Bis dahin: tief durchatmen!