Endlich betet Benedetta im gleichnamigen Film von Paul Verhoeven auch von heimischen Leinwänden. Anlass genug, sich dem Schaffen des holländischen Regie-Altmeisters in unserer Podcast-Kolumne in The Gap zu widmen.
Man hatte es vermisst. Schmerzlich nachgerade. Das ungläubige Raunen, das aufgewühlte Hüsteln, das hysterische Auflachen. Im Saal selbst. Der angeregte, gern aufgeregte Austausch, das ungefilterte Aufeinanderprallen der Ansichten über das soeben Erlebte. Danach, im Foyer. Anlässlich einer Filmfestivalvorführung etwa. Wo man sich im besten Fall auch mal über jene Sorte von filmbezogenem Gesprächsstoff und -bedarf freuen darf, der so rar geworden ist im Zeitalter der zur pandemischen Routine gewordenen Solo-Streaming-Sitzungen und des ergänzenden stromlinienförmigen Konfektionskinos, mit dem uns Marvel und Co in den Multiplexen abzuspeisen versuchen. Ein solcher bester Fall trat neulich zum Glück wieder auf, als auf dem Spielplan der Viennale mit Benedetta eine Arbeit zu finden war, die, wie schon bei ihrer Premiere in Cannes Monate zuvor, für die Erregung öffentlicher Erregung zu sorgen verstand.
Aber was hat man sich auch sonst erwartet, wenn Paul Verhoeven seine Bilder und Ideen auf Leinwände wirft – die öffentliche Erregung begleitet den Altmeister des transgressiven Edel-Trashs schließlich zeit seines rund halbjahrhundertjährigen Schaffens. Die Karriere des Holländers lässt sich unbesehen als Chronik der nicht immer angekündigten, wiewohl stets geflissentlich miteinkalkulierten Skandale lesen: Von frühen Saubarteleien wie Türkische Früchte und Der vierte Mann über Hollywood-Grenzüberschreitungen wie Basic Instinct und Starship Troopers bis hin zu alles anders als altersmilden Spätwerken wie Black Book oder Elle ist die Geschichte des Verhoeven mit guter Gesetzmäßigkeit eine voller Missverständnisse. Mit Absicht und Vorsatz. Er würde es gar nicht anders wollen. Weil es seine Arbeiten proaktiv nicht nur darauf anlegen, Autoritäten zu hinterfragen, sondern auch bei dir selbst Reibung und Augenreibung zu erzeugen, dich aus der kuschligen Komfortzone zu locken, dir den Boden von Weltanschauung und Schaugewohnheit unter den Füßen wegzuziehen – und sei es nur eine einzelne Szene lang. Kontroverse nicht der Kontroverse, sondern der Konversation wegen.
Ein Blick unter die grelle Oberfläche ist angesagt
Gesprächsbedarf legt nun auch der eingangs erwähnte jüngste Tabubruch des ewigen Agent Provocateur nahe – gleichsam selbstredend, wenn diesem ein Werk mit dem Titel Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance als Vorlage dient, und dieses obendrein noch auf (von Judith Cora Brown notierten) wahren Begebenheiten beruht. Die Geschichte von Benedetta Carlini (Virginie Efira) klingt für Tatsachen tatsächlich fast zu wild: Nachdem sich die Visionen, die die Klosterfrau von Jesus – in Verhoevens Version: fesch, bärtig, pferdereitend, schwerterschwingend – hatte, in Stigmata (selbstzugefügten womöglich?) manifestierten, wurde diese von den Kirchenoberen zur neuen Äbtissin des Klosters befördert. Ihr privilegierter Quasi-Heiligenstatus ermöglichte es Benedetta in weiterer Folge, hinter ihren privaten Klostermauern im Intimverbunde mit der Novizin Bartholomea (Daphnè Patakia) die sakrale mit der fleischlichen Liebe verschmelzen zu lassen. Was der argwöhnischen Vorgängerin (Charlotte Rampling) freilich Munition für ein sinisteres Komplott lieferte …
Versteht sich eigentlich von selbst, dass der amtsbekannte Atheist Verhoeven diesen ersten bekundeten Fall eines lesbischen Liebesverhältnisses in einem Kloster in provokanter, sexuell expliziter, natürlich auch streitbarer Ästhetik einzufangen trachtete – einen Marienfigurendildo hat man im Kino bisher noch nicht gesehen. Versteht sich ebenfalls von selbst, dass er dafür bereits aus allen ideologischen Himmelsrichtungen Haue und Schelte bekam, vom Verbot des Filmes in Russland wegen des Verstoßes gegen Gesetze zum Schutz der Gläubigen und der Religionsausübung bis hin zur obligatorischen Aufpudelei auf einschlägigen Empöriker-Plattformen. Ärgerlich, aber auch wenig überraschend, dass dabei wie so oft beim 83-Jährigen wieder mal vergessen wurde, einen Blick unter die grelle, hochglänzende Oberfläche zu werfen.
Man hätte im Zuge dessen nämlich erkennen können, dass sich hinter dem angeprangerten male gaze eigentlich eine Hinterfragung desselben durch eine Kamerafrau (Jeanne Lapoirie) verbirgt. Dass im selben ästhetischen, aber auch inhaltlichen Aufwasch gleich noch eine Distanzierung von der Heiligenscheinheiligkeit klassischer Klosterdramen der Marke Black Narcissus, mit ihrem verkorksten Schwelgen in weiblicher Unschuld, stattfindet. Dass hier eben vielmehr, wie bereits in ebenso gern fehlverstandenen Paul-Pics von Basic Instinct über Showgirls bis Elle, erneut eine unbemerkt selbstbestimmte, souveräne Frau im Fokus steht, eine unterschätzte Meistermanipulatorin, die männlich geprägte Machtverhältnisse geschickt zu ihren Gunsten zu drehen versteht. Ja, dass das enthemmte Feuerwerk aus cheap thrills, dass all die plakativen Skandalszenen lediglich Aufhänger und Dreingabe sind für einen hochgradig reflektierten Film, der zur Abwechslung einmal seine Heldin und ihre Motivationen ernst nimmt. Darüber sollte man reden. Am besten hoffentlich demnächst in einem Kinofoyer deiner Wahl.
[Geschaut: Im Rahmen der Viennale 2021]