Die aktuelle Kolumne für The Gap verläuft sich zunächst im Criterion Closet, findet dann aber in Walter Salles‘ grandiosem, Oscar-nominiertem Comeback-Film auch einige unangenehme Wahrheiten.

Hmm, ja, okay – aber was müsste man sich dafür reinpfeifen, wenn man es wirklich drauf anlegen wollte? In welcher Dosierung? Und mit welchen Wechselwirkungen? Kein Pharmazeut weit und breit, der das klären könnte – und leider auch kein David Lynch mehr, na ja. Ah, ihr seid ja schon da! Sorry, war kurz in slightly melancholischer Stimmung und auch sonst latent abgelenkt. Eben stand noch Janelle Monáe in einem bis zur Decke vollgeräumten Kammerl der Criterion Collection und meinte, das Anschauen von Lynchs Eraserhead fühle sich an, als wäre man gleichzeitig auf fünf verschiedenen Drogen. Ich geb’s zu: Vielleicht war ich doch ein bisschen zu lange im Criterion Closet versumpft – jenem tollen YouTube-Format, in dem Popkultur-Zelebritäten sich ein Sackerl mit filmischen Preziosen vollräumen, die ihnen taugen, fehlen oder einfach gut ins Regal passen. Ein echtes Rabbit Hole mit erstaunlichen Erkenntnissen: Jarvis Cocker hat Salo noch nie gesehen (holt es aber nach), Winona Ryder erinnert sich gern ans Schreibmaschinenrattern ihres Vaters, und Pamela Anderson outet sich als Cinephile mit Faible für Fellini, Godard und – again! – Lynch.

Eigentlich war ich hier – rein zu Recherchezwecken, ich schwöre! – wegen Walter Salles, jenem Regisseur, der sich vor gut zwei Jahrzehnten mit behutsam-brillanten Werken wie Central Station und The Motorcycle Diaries als hervorragender Mitgestalter des lateinamerikanischen Kinos einen Namen gemacht hatte. Dann kam Hollywood: Auf ein solides Japan-Horror-Remake (Dark Water) und eine dürftige Kerouac-Adaption (On the Road) folgte jedoch eine viel zu lange Schaffenspause. Nun ist Salles wieder da. Nicht nur im Criterion Closet (seine Beute btw: Tarkovskis Andrei Rublev, Scorseses Raging Bull, Antonionis La Notte), sondern auch in seiner Heimat und auf den Kinoleinwänden – mit einem neuen Film, dessen Titel kaum passender gewählt sein könnte: I’m Still Here.

Bevor Salles zum Kern der (wahren) Geschichte seines Werkes vordringt, lockt er das Publikum aber erst einmal in eine raffiniert konstruierte Falle. Wir schreiben das Jahr 1971 in Rio de Janeiro: Der Ex-Politiker Rubens Paiva (Selton Mello) ist nach Jahren im Exil kürzlich erst wieder zu seiner Familie zurückgekehrt, nachdem er während der Revolution aus der Regierung gedrängt wurde. Mit seiner Frau Eunice (Fernanda Torres) und den fünf Kindern führt er ein ausgefülltes und von Wärme und Zuneigung durchdrungenes Leben. Endlose Tage am Strand, spontane Tanzpartys, Freunde, die kommen und gehen – sogar ein streunender Hund findet Unterschlupf: Die Harmonie im Hause Paivas scheint schier unerschütterlich. Unwillkürlich und wider jede Wahrscheinlichkeit hofft man bei sich, dass dieses fragile Paradies mehr als die ersten Minuten des Films überdauern und sich hier nichts Unangenehmes mehr ereignen möge. Aber, aber: Die Idylle spielt sich vor dem Hintergrund einer Militärdiktatur ab, die seit einem Putsch vor sieben Jahren das Sagen im Land hat. Helikopter durchpflügen den Himmel, Armeekonvois rollen durch die Straßen, die Nachrichten berichten von politischen Entführungen wie jener des Schweizer Botschafters – das Regime ist omnipräsent.

Die Eltern wissen um die Gefahr, wahren aber den Schein. Bis das Unvermeidliche eintritt und eines Tages strenge, bewaffnete Herren vor der Tür stehen, die Rubens zu einer „kurzen Befragung“ mitnehmen wollen. „Zum Soufflé bin ich wieder da“, versucht er die Seinen noch mit demonstrativer Gelassenheit zu beruhigen, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Bald darauf wird auch Eunice an einen geheimen, dunklen Ort gebracht, wochenlang verhört und dann ohne Erklärung entlassen. Zu Hause setzt sie alles daran, den Kindern ein Leben in relativer Normalität zu ermöglichen. Obwohl sie ahnt, dass sie alle Rubens nie wiedersehen werden, sucht sie jahrelang weiter nach Informationen über sein Schicksal, stößt aber beharrlich auf Schweigen und unverblümte Gleichgültigkeit.

Filmische Arbeiten, die sich mit Schandtaten repressiver Systeme auseinandersetzen, gibt es zwar nicht wie Sand an der Copacabana, aber doch genug, um ihre Muster zu erkennen. Salles beschreitet auf wohltuende Weise nicht den Zugang eines heroisch aufgeladenen Agitprop, sondern einen weit subtileren. Dass der Filmemacher selbst aus einer brasilianischen Politikerfamilie stammt und die Paiva-Kinder aus seiner Jugend kennt, verleiht Ainda Estou Aqui dabei greifbare Authentizität. Das Gezeigte gleicht sogar einer ausgedehnten Erinnerung: In gedämpften Farben, mit zurückhaltender Kamera und einer gespenstischen Grundstimmung wird hier von der seltsamen Ohnmacht berichtet, die sich einstellt, wenn der eigenen Welt von oben herab ein elementarer Teil entrissen wird.

Aufbauend auf der monumentalen Leistung seiner mehrfach preisgekrönten Hauptdarstellerin Fernanda Torres legt Walter Salles in seinem Comeback ein eindringliches Porträt von Verlust und unbeugsamem Widerstand vor, das umso kraftvoller wirken kann, als es ohne laute Töne auskommt. In der unaufgeregten Schilderung der Erosion dessen, was sich Alltag nennt, liegt die ureigene Qualität dieses Films. Er fordert schlicht heraus, über eine bürgerliche Existenz unter autoritärer Führung zu sinnieren – über ein allgegenwärtiges Szenario der Angst, das sich nicht immer in Schüssen, sondern ebenso gut im Schweigen manifestiert. Hier hat es eine bedrückende filmische Botschaft aus einer spezifischen Vergangenheit, die sich als universelle Mahnung für die Gegenwart erweist. Der Firn der Zivilisation ist entschieden dünner, als wir uns einzugestehen wagen.