Weder Wunsch- noch Alptraum: Neil Gaimans Serienfassung seiner ikonischen Graphic Novel steht sich mit übertriebener Werktreue oft selbst im Weg – und liefert dennoch einige der stärksten Stunden des Fernsehjahres.
Darum geht’s: Don’t judge a book by its cover. And don’t judge a show by its pilot. Leichter gesagt als getan. Weil es eben kein restlos belastbares Kriterium gibt, das man heranziehen könnte, um von der Qualität der ersten Episode auf jene der ganzen Staffel schließen könnte. Wir haben sie alle schon erlebt, die Einstandsfolgen, die einem mit ihrer Klasse instantly umgehauen haben – und die Enttäuschung darüber, dass sich dieses Gefühl im weiteren Verlauf der Season nur noch selten einstellen wollte. Umgekehrt gibt es zahlreiche Serien, die nur schwer und eher ernüchternd aus den Boxen kamen, die sich allerdings nach und nach zu echten Bereicherungen im Schaurepertoire mauserten. Dennoch: Gemeinhin erlaubt der Ersteindruck schon eine ganz valide Einschätzung dessen, was einen auf längere Distanz erwarten wird. Sonst wäre es dem Rezensenten auch kaum möglich, Serienberichterstattung in einem gewissen Ausmaß zu leisten – weder kann noch will jede einzelne Folge einer Show angesehen werden. Und so sieht man von 90% der Produktionen nie mehr als die ersten 30 bis 60 Minuten – danach muss es bereits heißen: Daumen hoch, Daumen runter, für Liebe auf den zweiten Blick fehlt zumeist schlicht die Zeit. Doch dann gibt es Fälle, aus denen man nicht so richtig schlau werden will. Fälle, bei denen man zu Beginn noch überhaupt nicht einordnen kann, was das werden soll und will. Selbst nach der zweiten, fünften, siebenten Episode nicht. Fälle, in denen man dann eben jede einzelne vorab verschickte Screener-Folge anschauen muss, in der Hoffnung, irgendwie doch noch zu einem stimmigen Urteil zu kommen. Fälle wie: Sandman.
Dass diese Zerrissenheit nicht total aus heiterem Himmel kommt, legt ein Blick auf die letzten drei Dekaden nahe, in denen Neil Gaimans mit 75 Ausgaben extralanglebige, weit über das Genre hinaus wegweisende und kultisch verehrte Graphic Novel selben Titels mehr als nur einen gescheiterten Versuch der Adaption hinnehmen musste. Dieses weitschweifige Götter-und-Dämonen-Epos, dieser düstere, schwindelerregend vielschichtige Meilenstein der Fantasy-Literatur mit ziemlicher thematischer Tiefe bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Breite ließ sich schlichtweg nie auf den einen einzigen Erzählstrang für einen Zweistundenfilm eindampfen. Ja, selbst für eine Aufbereitung in Serienform fand sich bislang nie der richtige Hebel. Unverfilmbar, wie es in solchen Fällen gern mal heißt. Bis der Stoff dann irgendwann doch verfilmbar wird, ja, werden muss. Etwa, weil Gaiman höchstselbst Hand an Entwicklung und Drehbuch anlegt und seine Schöpfung aus der ewigen Development Hell holt, den ewigen, den unmöglichen Traum Wirklichkeit werden lässt – in Form einer fürs erste einmal ersten Serien-Season für Netflix (die als einziger, auch für solche komplizierten Fan-Faves bereits gewappneter Partner, siehe The Witcher, The Umbrella Academy et al, gewillt waren, das nötige Budget von nördlich der 160 Mio. Dollar zu wuppen).
Traum ist dann gleich auch das richtige Stichwort – ist dies doch der Name der Hauptfigur dieser sich an einer Vielzahl von Orten dies- und jenseits der aktiven Wahrnehmung aufspannenden Erzählung. Oder besser: einer der Namen, denn je nach Gesprächsgegenüber heißt unser Held Dream, Morpheus, King of Dreams oder, yep, Sandman (sein einnehmend melancholischer Darsteller mit Robert-Smith-Gedächtnislook hat nur einen Namen: Tom Sturridge). Und es sind wahrlich einige Gesprächsgegenüber, denen der Herrscher über das Reich der Träume begegnen wird. Jenes Gegenüber, dem wir zuerst begegnen, setzt sogleich die weiteren Ereignisse und Entwicklungen in Gang: ein von Charles Dance mit gewohnter, geschätzter Gemeinheit verkörperter reicher Okkultist, Typus Aleister Crowley, der den Tod mittels eines Bannspruchs zur Rückgabe seines Filius zwingen möchte. Durch einen Lapsus fängt er jedoch nicht Death ein, sondern eines von dessen Geschwisterchen aus der Gilde der Endless, der sieben Ewigen: Dream, ganz genau. Weil sich der Sandman hingegen weigert, in irgendeiner Form zu kooperieren, ziehen – so viel Spoiler muss sein – bis zu seiner Flucht tatenlose hundert Jahre in Gefangenschaft ins Land, nach denen weder in der Welt der Schlafenden noch in jener der Wachenden noch etwas so ist wie zuvor. Für die erfolgreiche Absolvierung seiner Mission, sein kollabiertes Königreich The Dreaming wieder auf Vordermann zu bringen und dabei die Kontrolle über alle Träume, die sich in der Zwischenzeit selbständig gemacht haben, zurückzuerlangen, muss Dream erst einmal seiner drei verlustig gegangenen Artefakte Helm, Sandbeutel und Rubin habhaft werden. Dafür will nicht nur Teifl Lucifer ein Besuch abgestattet werden, auch mit einigen von Dreams Schwestern und Brüdern – konkret mit Death und Desire, während Delirium, Destruction, Despair, Destiny weiter auf größere Auftritt warten müssen – sind noch Rechnungen zu begleichen. Darüber hinaus lauert am Horizont, der Wach- und Schlafwelt trennt, Ungemach in Persona des literally laufenden Alptraums Corinthian – und dann gibt es da noch ein Mädchen, das über Kräfte verfügt, die dazu angetan sind, das fragile Gefüge der Universen für immer aus dem Gleichgewicht zu bringen …
Als entsprechend erratisch und episodenhaft eingerichtet entpuppt sich diese Reise in zehn Etappen, die Dream und uns mit wilden Hakenschlägen durch Raum und Zeit führt. Doch auch sonst ist Sandman schier all over the place. Wo man der Pilotfolge noch nachsehen kann, dass sie der Prolog-Aufgabe des grundsätzlichen Tischlein-Deckens für all die kommenden Zauber mit wenig Experimentierwillen nachkommt, bewegen sich indes auch die drauf folgenden Folgen mitunter etwas sehr nah an der Vorlage. Wohl, weil Gaiman mit seinen Co-Creators (u.a. David S. Goyer, Dark Knight-Trilogie) just das verhindern wollte, was zuletzt seinen American Gods im serialisierten TV widerfahren ist: dass durch zu viel Improv der Fokus auf die Essenz des Ausgangsmaterials verloren geht – und damit das aus dem Genre-Gewöhnlichen Hervorragende. Auf einer nicht immer glücklich gestalteten, hermetisch hochglänzenden CGI-Bühne arbeitet sich die Show so in ihren Anfangsstunden in Stationendrama-Form mit einigem Einführungs- und Erklärungsbedarf an einem per se ja schillernden Universum ab, ohne dabei aber je so richtig ins Rollen zu kommen. Zahllose von Schauspielhochkarätern gespielte Charaktere kommen und gehen, während all der Zauber, die Fantasie, auch die Abgründe, die man gemeinhin mit der Welt der Träume verbindet, lost in der translation von Comic-Panel in Bewegtbild scheinen.
Doch kaum, dass man sich für den halb-herb enttäuschten Abgesang hinter die Schreibmaschine klemmen will – von wegen zu viel Werktreue, aber zu wenig Wunder – da stellen sich, out of the blue (oder: black?) schier, doch noch Offenbarungen ein: In ihrer fünften und sechsten Stunde entwickelt die Serie endlich jene Kraft, die man sich von ihr nicht nur gewünscht, sondern sogar erwartet hatte: Dreams Begegnungen mit dem von gefährlich unreflektiertem Wahrheitsstreben getriebenen Rubin-Inhaber John Dee – im DC-Universe auch als Doctor Destiny bekannt – sowie mit seiner Schwester Death (auf einer ihrer herzzerreißenden Todes-Touren) gehören zum Bemerkenswertesten, was man heuer auf kleineren Schirmen zu sehen bekam. Das von diesen bärenstarken Episoden bescherte Hochgefühl währt indes nicht allzu lange: Ausgerechnet jetzt, als die Macher den Anthologie-Modus mit wechselnden Themen, Figuren und Schauplätzen in den Griff bekommen haben, beschließen sie, den Rest der Season lieber mit einem konventionellen fortlaufenden Plot zu bestreiten, der leider gegen das eben Erlebte wieder abfällt. Nicht, dass wer behauptet hätte, die Balance von Stand-alone-Folgen und stringenter Staffelkonstruktion, zwischen Faden finden/festhalten und Faszination aufrechtherhalten wäre eine leichte: Doch so richtig schlau wird man aus diesen ersten zehn Stunden TV-Sandman wie eingangs erwähnt kaum, selbst im Nachhinein nicht. Aber das geht einem bei den allermeisten Träumen ja genauso …
Besondere Beachtung: Verdient sich das durchgehende Serien-Thema der sehr schwankenden Überzeugungskraft leider auch auf Schauspielebene – erst recht bei so einer großen, vermutet hochkarätigen Besetzung. Obwohl Gwendoline Christie (Game of Thrones‘ Brienne) Lucifer unbeirrt ganz anders interpretiert als Tom Ellis in der populären Sandman-Quasi-Vorab-Spin-off-Serie mit selbigem Namen, kommt man um die Erkenntnis nicht umhin, dass der Funke der ambigen Aufregung nie so recht überspringen mag – zu überzogen, zu hölzern ist ihr Mephisto angelegt, um wirklich zu überzeugen, gar zu beunruhigen. Das Casting von John Dee/Doctor Destiny darf hingegen als Glücksfall bezeichnet werden: Wie etwa auch schon in der dritten Staffel Fargo hebt der britische Ausnahme-Actor David Thewlis das Geschehen um ihn herum für einige kostbare Minuten auf eine ganz andere Intensitäts-Ebene, die die Show ohne ihn sonst nur selten erreicht. Give him his Emmy already!
Koordinaten: American Gods; Good Omens; Lucifer; His Dark Materials
Anschauen oder auslassen? Anschauen. Wegen der paar herausragenden Episoden. Andere, mitunter frustrierende Folgen könnte man sich theoretisch auch sparen – but your mileage may vary, wie immer in solchen Fällen. Ohne Aber aber: Das Level der Erzählung, das den großen Romancier Norman Mailer einst vom „comic strip for intellectuals“ schwärmen ließ, erreicht diese Adaption trotz (oder wegen?) Gaimans Mitwirken noch eher selten. Zumindest, wenn man die wirklich begeisternden Momenten der Startstaffel als Maßstab des Möglichen nimmt, scheint die Saat für eine der reizvolleren Fantasy-Shows der Gegenwart allerdings gelegt. Hoffen wir, dass sie mittelfristig auch aufgehen wird. Man wird ja noch träumen dürfen!
[Geschaut: gesamte Staffel]