Mystery-Thriller? Survival-Horror? Teenage-Angst- und Midlife-Crisis-Drama? Diesem wilden, wendungsreichen Serien-Neuling genretechnisch gerecht zu werden ist schwer – aber auch nicht nötig. Süchtig macht er so oder so.
Darum geht’s: Die Suche, sie darf niemals enden. Über ein Jahrzehnt ist es schon her, dass der Inbegriff des modernen Mystery-Meisterwerks mit obsessiver Anhängerschar sein nicht grade unumstrittenes Finale über die Fernseher des Planeten flimmern ließ. Eh kloa: von Lost ist die Rede. Dass der Durst des angefixten Publikums nach neuen, im Wochentakt weitergesponnenen Rätselrallyes mit diesem Schlussstrich aber alles andere als gestillt war, belegen die zahlreichen Epigonen der Serie von Damon Lindelof, J. J. Abrams und Carlton Cuse, die meist aber vergeblich versuchten, deren großes Erbe anzutreten. Bei allem Buzz, den etwa Fringe oder auch das auf Fan-Initiative von Netflix am Leben gehaltene Manifest für sich verbuchen konnten: Erinnert sich da draußen wirklich noch jemand an Reißbrett-Geheimniskrämereien wie FlashForward oder Alcatraz? Dennoch wird und wurde ungeniert weiter nach dem Lost 2.0 gesucht – wie etwa ganz aktuelle, ganz desaströse Produktionen à la La Brea nahelegen. Bloß, weil Damon Lindelof für sich selbst und sein Nachfolge-Serienprojekt The Leftovers einst das Motto „Let The Mystery Be“ ausgegeben hatte, heißt das ja noch lange nicht, dass sich auch andere daranhalten müssen.
In den letzten Wochen von 2021 tauchte abermals eine Serie am Fernseh-Firmament auf, die nur dann noch mehr Lost-Flair versprühen könnte, wenn bald mal Rauchmonster oder seltsame Nummernkombis in einer ihrer Folgen auftauchen würden. Garantiert nicht ohne Kalkül setzt jenes Yellowjackets aus dem Hause Showtime auf eine Rezeptur, die Vergleiche mit dem Über-Mysterientheater nur so heraufbeschwört: Im Zentrum steht eine Gruppe von Leuten, die sich nach einem Flugzeugabsturz irgendwo im unbevölkerten Nirgendwo wiederfindet, wo sie ums Überleben kämpfen muss – und zwar vor dem Hintergrund manch unerklärlicher Begebenheit. Außerdem wird die Serie der Creators Ashley Lyle und Bart Nickerson über eine ausgefeilte Rückblenden-Struktur auf mehreren Zeitebenen parallel erzählt, was mit einer wundersamen und bewährten Rätselvermehrung einhergeht: kaum, dass mal ein Geheimnis aufgeklärt scheint, hat man gleich zwei neue auf dem Tisch liegen (was übrigens dazu führte, dass ich diesen Text zigmal verschoben habe, es könnte ja manches ganz anders kommen als bereits beschrieben). Kommt einem alles irgendwie bekannt vor, nicht?
Was einem allerdings nicht bekannt vorkommt – und was Yellowjackets auch so wohltuend von Lost und den meisten seiner übrigen Epigonen unterscheidet, ist der zwischenmenschliche Faktor. Hier hat es nicht eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die sich von einer Minute auf die andere im Survival Modus wiederfindet, während sich die einzelnen Schicksalsgefährten überhaupt mal kennenlernen müssen, hier hat es vielmehr ein im wahrsten Sinn des Wortes aufeinander eingespieltes Team. Ein Highschool-Mädchen-Fußballteam, um genau zu sein, das Mitte der Neunziger nach dem Gewinn der lokalen Ausscheidung auf dem Weg zur nationalen Meisterschaft gewesen war, als es im Privatjet zum Unglück in der kanadischen Kälte kam. Entsprechend eingeübt sind die Dynamiken zwischen den charakteristischen Archetypen (Everybody’s Darling, Rebellin, Nerd) zu Beginn des 19 Monate dauernden Überlebenskampfes – und entsprechend fesselnd ist es auch, in weiterer Folge dabei zuzusehen, wie diese Dynamiken im Angesicht der anhaltenden Existenzangst Stück für Stück mutieren, während jedes der Girls sich und seinen Status neu definiert und alte Freundschaften neuen Allianzen Platz machen.
Der Nachhall all dieser teils einschneidenden Entscheidungen und Ereignisse – von denen wir bislang halt nur einen Bruchteil kennen – lässt sich bis in die zweite Timeline der Serie hinein vernehmen, die in der Jetztzeit angesiedelt ist. In jener begleiten wir (bislang) vier Überlebende (gespielt von Tawny Cypress sowie den Nineties-Indie-Queens Christina Ricci, Juliette Lewis und Melanie Lynskey) dabei, wie sie mitten in ihren Midlife-Alltagen aus Karriere, Kind und Sorgen von Sucht bis Seitensprung zunächst einzeln, später dann notgedrungen gemeinsam dagegen ankämpfen, dass durch eine vermeintliche Journalistin und/oder eine Erpressung ihre verdrängten Erinnerungen und unterdrückten Geheimnisse ans Tageslicht gelangen. Was bei uns vorm Schirm die Neugier freilich nur noch nährt: Was könnte dort draußen in der Wildnis noch an Traumatischem oder Tragischem passiert sein, dass alle Betroffenen bis heute davon verfolgt werden? Einen gar nicht so dezenten Vorgeschmack darauf gibt ganz zu Beginn der Pilot, der in einem geschickt gesetzten FlashForward (ha!) mit einer barbarischen Menschenjagd mitsamt angedeutetem Kannibalismus gleich mittenrein ins Herz der Finsternis zielt.
Jener allererste, von der tollen Karyn Kusama (The Invitation) nervenaufreibend inszenierte Einblick in noch zu Erwartendes steht dabei stellvertretend für den ultraintensiven Keine-Gefangenen-Ansatz, den Yellowjackets von Minute eins an verfolgt. Selbst im vermeintlichen Safe Space der Suburbia-Gegenwart kann man sich nie wirklich sicher sein, dass nicht hinter der nächsten Ecke ein neuer Abgrund lauert – von all dem Wahnsinn, der in der Wildnis nur darauf wartet, freigesetzt zu werden, sowieso zu schweigen. Gerade in der virtuosen Verschränkung der Timelines zeigt sich die Meisterschaft dieser kühnen Erzählung: Es ist einfach nie vorherzusagen, wie gestern und heute, wie Horror in der Natur und Verzweiflung in der Vorstadt einander bedingen, wie bewegtes Coming-of-Age- und melancholisches Midlife-Crisis-Drama aufeinander einwirken. Aufeinander einwirken in einer komplex arrangierten Mystery-Komposition, die letztendlich eben genau wegen dieser Variabilität punkto Tempos und Tonart nicht wie viele Wegbegleiter-Werke allein die Lost-Klaviatur mit Bravour bedienen will (obwohl sie dies sehr gut kann), sondern das gesamte Genre-Orchester gewinnbringend miteinbezieht.
Besondere Beachtung: Verdient auch abseits des 90s-Nostalgie-Gefühls, das Namen wie Ricci und Lewis auslösen, das Casting: Selten erlebt man es, dass jüngere und ältere Varianten von Figuren sich so glaubwürdig decken – und dies, obwohl sie sich oft nicht mal sonderlich ähnlich schauen. Applaus, Applaus für dieses Typecasting in Formvollendung. Und selbstverständlich für die young guns Sophie Thatcher, Sammi Hanratty, Sophie Nélisse und Jasmin Savoy Brown.
Koordinaten: Lost; The Wilds; Little Fires Everywhere; Überleben!
Anschauen oder auslassen? Anschauen. Es gibt derzeit schlichtweg keine andere neue Serie, die einen so hohen Suchtfaktor besitzt wie dieser erbarmungslos effektive Bastard aus Survival-Abenteuer, Teen-Horror, Vorstadtdrama und Mystery-Thriller. Ein gern auch mal heftiger Ritt von einem gewagten Cliffhanger zum nächsten, getragen von einem formidablen Ensemble-Cast.
[Geschaut: 8 von 10 Folgen]